Über einen verkannten St. Galler Hang
0 KOMMENTARE
Thomas Widmer: «Diese Route über dem Walensee passt zum Spätherbst, weil sie technisch einfach ist. Wundervoll, wie im Wald die gefallenen Blätter duften – zimtig irgendwie. Sind die Churfirsten vis-à-vis allenfalls die schönste Bergkette der Schweiz?»
VON THOMAS WIDMER
Bahnhof Walenstadt, die Luft ist kalt, die Churfirsten überzuckert, wir starten. Folgen kurz dem Schienenstrang Richtung Sargans, biegen dann ab nach Süden, lassen bald auch die Autobahn hinter uns – uff, geschafft, jetzt kann die Wanderung so richtig beginnen, wir haben den mobilen Wahnsinn hinter uns. Die nächsten Stunden sind langsam im besten Sinn.
Auf einem Fahrsträsschen machen wir Höhe, sind mittlerweile auf die generelle Gehrichtung des Tages – westwärts – eingeschwenkt, gehen also parallel zum Ufer des Walensees. Die Wiesen, der Waldboden, der Strassenbelag, alles ist bedeckt mit gefallenen Blättern, die einen bräunlich, die anderen rötlich, wieder andere gelb. Spätherbst eben. Die Blätter riechen fein, nach Zimt irgendwie. Ich geniesse den Duft, denn kommt der Schnee, ist fertig Nasenfreude. Der Winter ist ja praktisch geruchlos.
Bei Schluchen/Lehn gibt es eine Schiessanlage örtlicher Jäger, Betrieb ist grad keiner, wir können also in der Direttissima weitergehen, auf der Karte ist die Umleitung, wenn sie nötig ist, eingezeichnet. Dann sind wir so richtig im Wald. Einem Tolkienwald sozusagen mit Felsblöcken, die irgendwann den steilen Hang hinabrollten. Holz modert, es ist still, wenn hier ein Zwerg stünde oder eine Elfe, würde einen das nicht wundern. Weiter steigen wir.
Auf dem Nejenberg erreichen wir eine Lichtung, wir haben die Churfirsten nun schön vis-à-vis, ein fahles Sonnenlicht liegt über dem See. Von der Autobahn etwas tiefer im Hang hören wir nichts. Ohnehin sind wir beschäftigt. Die Bernerin im Grüppli findet die Churfirsten eine minderwertige Bergkette. Eiger-Mönch-Jungfrau seien das Grösste, sagt sie. Ich halte dagegen und schwärme vom Ebenmass der Churfirsten. Nicht hoch seien sie, aber gereiht wie Schmucksteine an einer Schnur. «Als Ensemble nicht zu übertreffen, die schönste Bergkette der Schweiz», schiebe ich nach. Schliesslich bin ich Ostschweizer.
Kurz vor Hofstetten überqueren wir den Talbach. Die ersten Essfantasien melden sich und werden verbalisiert, doch wird es noch dauern bis Quarten. Die parallelen Seile über uns lenken uns ab. Sie gehören zur Gondelbahn der Linie, die von Unterterzen via Oberterzen hinauf nach Flumserberg-Tannenboden führt.
Spuren der Schönstattbewegung in Quarten
Wir durchqueren Oberterzen. Es geht über den Kammenbach. Lehn, Blangs, Chäsgüetli folgen, dann sind wir in Quarten. Wo ist denn jetzt der Josef-Kentenich-Weg, an dem das Restaurant liegt, in dem ich reserviert habe? Ich muss das auf dem Handy nachschauen. Und wer war der Mann, dem der Weg gewidmet ist?
Josef Kentenich, 1885–1968, war ein deutscher Priester, der seine eigene Sicht des Glaubens formulierte, er setzte weniger auf Regeln und Riten und mehr auf den Einzelnen, dessen individuelle Beziehung zu Gott, dessen Entwicklung zu einem ganzen Menschen.
Okay, ich gebs zu, diese Formulierung habe ich aus dem Internet übernommen, ohne die Sache wirklich zu durchschauen. Aber jedenfalls begründete Kentenich, der lange in der deutschen Ortschaft Schönstatt wirkte, die «Schönstattbewegung». Das kirchliche Verfahren zu seiner Seligsprechung wurde ausgesetzt, nachdem gegen ihn Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe laut geworden waren. Wer es nachlesen will, der Mann hat einen Wikipedia-Eintrag.
Auch in Quarten hat die Schönstattbewegung Wurzeln geschlagen und besteht ganz unabhängig von ihrem längst verstorbenen Gründer. Als neugierige Menschen müssen wir hin. Und Hunger haben wir nun ganz fest. Wir essen im aussichtsreich gelegenen Hotel «Neu-Schönstatt», Teil eines von Nonnen geführten Tagungszentrums mit Kapelle. Durch die Scheiben eines grossen Gebäudes sehen wir im Inneren Kinder spielen.
Im grossen Restaurant ist von Religion nichts zu spüren, die Bedienung ist freundlich, der Hamburger im feuerroten Brötli mit Pommesfrites schmeckt, der Rotwein sowieso, uns ist grad sehr weltlich zumute, wir geniessen.
Nach dem Zmittag schauen wir immerhin in die Kapelle auf dem Areal. Gehen aber schnell wieder. Drinnen sind ein paar Leute in eine Art stilles Gebet vertieft, wir wollen nicht stören.
Wenn ich am Wandern eines mag, dann, dass man unheimlich viel lernt. Alles Mögliche entdeckt. Nicht nur Landschaften, sondern auch Milieus. Andere Lebensweisen.
Vollen Bauches ziehen wir weiter über die Geländeterrasse nach Westen, sehen noch mehr vom See unter uns und von den Churfirsten. Vor Ende der Wanderung wird uns schliesslich ein beglückendes Szenario zuteil. Das Tobel des Murgbaches. Gewaltige Felsblöcke liegen verstreut wie Spielzeug abgezogener Riesen, ein Wasserfall ergiesst sich, wir fühlen uns plötzlich in den Bergen, und mich packt eine Sehnsucht, nun aufwärts zu halten durchs Murgtal zu den berühmten Murgseen in ihrem gewaltigen Felskessel. Aber die sind unendlich weit entfernt, bis wir ankämen, würde es schon eindunkeln.
Und also halten wir, vernünftig, wie wir sind, am Westufer des Baches hinab zum Bahnhof Murg – ach, Murgseen, ihr müsst bis zum nächsten Jahr warten. Immerhin passieren wir auf dem Luchsberg ein fast quadratisch gefasstes, hübsch anmutendes Gewässer. Ein kleines, der Stromgewinnung zudienendes Staubecken.
Am Bahnhof ist kurz darauf Zeit fürs übliche Routenfazit: Wir sind uns einig, dass wir viel erlebt haben an einem Hang, den manche ignorieren, weil die Autobahn von Zürich nach Chur sie abschreckt. Wir haben sie kaum mitbekommen.
Dies ist, liebe Leserinnen und Leser, ein Genusshang.
Anforderung: 13,4 km, 523 m aufwärts / 521 m abwärts, knapp 4 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil, Teil1 und Teil 2
Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»