Weihnachtszeit ist Märchenzeit

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22. Dezember 2023 – Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Adrian Michael* erzählt von seinem ersten Märchenbuch, das er als kleiner Junge zu Weihnachten bekam. Die eindrücklich illustrierten Geschichten der Brüder Grimm haben ihn bis heute nicht mehr losgelassen.

Schneewittchen in seinem gläsernen Sarg
Schneewittchen und der trauernde Zwerg (Zeichnungen: Paul Hey)

VON ADRIAN MICHAEL*

An einem Weihnachtstag in den 1960er Jahren, ich war wohl acht oder neun, lag unter unserem Christbaum ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckli. Dass sich ein Buch darin verbarg, war unschwer zu erkennen. Ungeduldig schälte ich es aus dem Papier. Auf dem hellblauen Umschlag stand in grossen roten Buchstaben: «Die schönsten Kindermärchen der Brüder Grimm».

Ich habe das Buch immer noch. Der Zauber, den es schon als Kind auf mich ausübte, hat sich bis heute erhalten. Waren es früher die Geschichten und die Bilder, sind es heute vor allem die Erinnerungen, die mich mit diesem Buch verbinden.

Im Lauf der Jahrzehnte hat das Buch allerdings gelitten. Eines Tages war es so zerfleddert, dass ich es neu binden lassen musste. Den Buchrücken und den Umschlag konnte der Buchbinder gekonnt in die neue Version hinüberretten. Beim Märchen «Die zwei Brüder» allerdings waren zwei Seiten derart zerfetzt, dass sie nicht mehr zu reparieren waren. Da mir an Vollständigkeit lag, habe ich sie in einer einigermassen passenden Schrift abgetippt und den Buchbinder gebeten, sie einzufügen.

Restaurierte Seiten
Erssetzte Seite aus «Die zwei Brüder» in passender Schrift (Foto: am)

Vom Aschenputtel bis zum goldenen Vogel

70 Märchen enthält das Buch. Neben weltbekannten Geschichten wie «Aschenputtel», «Hänsel und Gretel» oder «Dornröschen» finden sich wunderschöne Märchen, die den Klassikern in nichts nachstehen. Beispiele dafür sind «Die weisse Schlange», «Der goldene Vogel» oder «Das Wasser des Lebens». Nahezu unbekannt sind Märchen wie «Die Nelke» oder «Die beiden Wanderer».

Was war es, das mich als Kind an diesem Buch so begeisterte? Ich denke, es war der harmonische Dreiklang aus Inhalt, Bildern und Sprache. Dass das Layout mit praktisch durchgehendem Blocksatz sehr rustikal daherkam, störte mich nicht.

Von den Geschichten mochte ich vor allem die weniger bekannten. Mein absoluter Favorit ist bis heute «Der Eisenhans», die spannende Geschichte der Entwicklung eines jungen, ungehorsamen Königssohns zum siegreichen Ritter, der die schöne Prinzessin heiraten darf und dazu noch unwissentlich den Eisenhans erlöst: Dieser entpuppt sich [Achtung Spoiler!] im letzten Abschnitt als stolzer König. Eine märchenhafte «Coming of Age»-Geschichte also.

Die magische Zahl Drei

Zahlreiche märchenhafte Elemente zeichnen die bildhafte Geschichte aus. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Zahl Drei wiederholt vorkommt. So werden drei Mal Jäger ausgeschickt, drei Mal fragt der Eisenhans nach dem Schlüssel, drei Mal fällt etwas in den Brunnen, drei Mal fasst die Königstocher nach dem Hütchen, drei Mal wird der Apfel geworfen.

Ein anderes grossartiges Märchen ist «Der goldene Vogel». Unterhaltsam wird hier die Geschichte des jüngsten Sohnes erzählt, dem niemand etwas zutraut und der dann doch die Prinzessin nach Hause bringt – obwohl er stets den Anweisungen der Ratgeber zuwiderhandelt.

Sehr gerne las ich auch «Die weisse Schlange». Sie greift ein Thema auf, das auch in anderen Geschichten behandelt wird: Ein Diener kann die Sprache der Tiere verstehen. Wer hat sich das nicht schon gewünscht? Was würden die Pferde vom Bauernhof neben unserem Haus erzählen, was die Kohlmeisen und Buchfinken aus den Bäumen rundherum?

Zum Glück wendet sich alles zum Guten

Eines der schönsten und zugleich traurigsten Märchen war für mich «Brüderchen und Schwesterchen». Wenn ich in der Pfadi oder auf einer Wanderung an einem Bächlein vorbeikam, meinte ich noch lange, das Wasser rauschen zu hören: «Wer aus mir trinkt, wird ein Reh.» Im Schloss dann die unglücklichen Worte der jungen Königin, die als Geist drei Mal ihren Bruder, der in ein Reh verzaubert wurde, und ihren neugeborenen Sohn besucht: «Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komme ich noch einmal und dann nimmermehr.» Aber zum Glück weiss man ja, dass sich alles zum Guten wenden wird – und so geschieht es auch.

Ein Märchen der besonderen Art ist «Simeliberg», das inhaltlich mit der Kurzfassung der Geschichte von Ali Baba und den 40 Räubern aus der Märchensammlung von 1001 Nacht übereinstimmt; auch die Namen des Felsens erinnern mit «Simeli» bzw. «Semsi» an den «Sesam» bei Ali Baba.

Bei diesem Märchen fand ich auch das Bild ganz toll: Dieser dramatische Schatten des gezückten Dolches an der Felswand, der gleich auf den Unglücklichen herunterfahren würde! Auch heute noch finde ich beeindruckend, welche Wirkung der Zeichner Paul Hey (1867–1952) mit schwarz-weiss Effekten erzielt hat.

Dramatischer Schatten des gezückten Dolches an der Felswand
Dramatischer Schatten des gezückten Dolches an der Felswand

Überhaupt die Bilder. Kaum hat man das Buch aufgeschlagen, fesselt einen eine Illustration zu Schneewittchen. Die Unglückliche liegt in der Morgendämmerung unter einem Baum in ihrem gläsernen Sarg, daneben ein trauernder Zwerg, versunken in seinen Kummer. Neben dem Baum äugt ein Reh, auf einem Ast zwitschert ein Vögelein. Im Hintergrund breiten sich Wälder, Felder und Wiesen aus.

Insgesamt enthält das Buch sechs ganzseitige Farbbilder, alle entstanden um 1940. Sehr realistisch sind sie gezeichnet, liebevoll und mit viel Gemüt. Beim Schneewittchen im Sarg wird der Schmerz des alten Zwerges deutlich, die Körperhaltung des Rotkäppchens zeigt seine misstrauische Neugierde. Das Rumpelstilzchen sieht man vor seinem strohgedeckten Häuschen förmlich aus der Haut fahren, als es um das Feuer hüpft, und der Gänsemagd im Tor sieht man ihre Trauer an. Man mag die Illustrationen als altmodisch abtun – was sie wohl auch sind. Aber sie greifen im Gegensatz zu modernen, oft seelenlosen Illustrationen den Inhalt der Geschichten gut auf, die Kinder mögen sie.

Die meisten Bilder im Buch sind schwarz-weiss, was sie aber nicht weniger attraktiv macht. Gfürchig steigt der Geist aus dem Glas, düster dräut der Himmel am Ufer der Nordsee. Und mit Rapunzel in ihrem Turmgemach haben wir Mitleid und hoffen, dass sie bald erlöst wird.

Rumpelstilz fährt aus der Haut, Rotkäppchen ist misstrauisch-neugierig
Rumpelstilz fährt aus der Haut; misstrauisch-neugieriges Rotkäppchen
Der Geist fährt aus der Flasche, der Fischer unter düster dräuendem Himmel
Der Geist, der aus der Flasche kam; der Fischer unter düster dräuendem Himmel
Traurige Gänsemagd im Tor, gefangene Rapunzel in ihrem Turmgemach
Traurige Gänsemagd im Tor; gefangene Rapunzel im Turmgemach

Eine Sprache aus vergangener Zeit

Die Märchen sind in einem heute manchmal antiquiert wirkenden Deutsch geschrieben. Aber da Märchen nun einmal in ihrer eigenen Welt spielen, dürfen sie auch in ihrer eigenen Sprache geschrieben sein. So wird zum Beispiel anstatt «wurde» stets die schöne Form «ward» gebraucht: «Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne.» Die Wendung «das deucht mich auch» anstatt «das dünkt mich auch» ist sicher etwas exotischer, wirkt aber auf mich eleganter.

In vielen Märchen kommen immer wieder Ausdrücke und Sätze vor, die meist drei Mal wiederholt werden. Die bekanntesten sind die Aufforderung Aschenputtels an die Tauben, ihr dabei zu helfen, die Linsen einzusammeln: «Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!» Oder die bange Frage der Königin an den Spiegel «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» oder «Der Wind, der Wind, das himmlische Kind» aus «Hänsel und Gretel». Auch der Ruf des armen Fischers an den Butt wiederholt sich drei Mal:  «Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.» Diese Wiederholungen verleihen der Geschichte eine spezielle Struktur, an der man sich gut orientieren kann.

Kinder hören gebannt zu

Dass all diese Märchen auch heute noch ihre Berechtigung haben, wurde mir klar, als ich sie den Kindern in der vierten Klasse vorgelesen habe. Zu sehen, wie gebannt sie den alten Geschichten lauschten und auch bei einem vertrauten «Dornröschen» oder «Aschenputtel» still zuhörten, war immer wieder bewegend. Oft erfuhr ich dann, dass sie bisher nur die Disney-Version gekannt hatten.

Beim Schreiben dieses Textes bin ich selbst wieder tief in die Märchenwelt der Gebrüder Grimm abgetaucht. Viele Geschichten habe ich wiederentdeckt, viele Bilder wieder gerne betrachtet. Vielleicht nehmen auch Sie wieder mal ein Märchenbuch zur Hand?

* Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Er ist seit 2017 pensioniert. Zu seinen Steckenpferden gehört die Zolliker Lokalgeschichte.

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