Weitsicht mit Lupe
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Bruno Heller*, Leiter des Ortsmuseums, traf in der Ausstellung «Zollikon von oben» auf einen 90jährigen Mann, der ihn tief beeindruckte. Dazu ein fotografisch festgehaltener Moment des Glücks von unserem Kollegen Reto Schlatter.**
2. Januar 2025 – Bruno Heller*, Leiter des Ortsmuseums, traf in der Ausstellung «Zollikon von oben» auf einen 90jährigen Mann, der ihn tief beeindruckte.
Bei der Eröffnung zur Ausstellung «Zollikon von oben» fiel mir ein hochgewachsener Mann auf. Er war stilvoll gekleidet und offenbar allein unterwegs. Obwohl ich kurz vor der Eröffnungsrede angespannt war, weckte er meine Aufmerksamkeit. In einer Hand hielt er einen Gehstock und in der anderen eine Lupe, mit der er neugierig über die alten Karten im Obergeschoss flog.
Ich sprach ihn an, und er erzählte mir mit kräftiger Stimme und einem Akzent, den ich nicht orten konnte, dass alte Karten seine grosse Leidenschaft seien und er sich über die Ausstellung sehr freue – leider würde er mit über 90 Jahren kaum noch etwas sehen und hören, weshalb er sein wichtigstes Werkzeug mitgenommen habe. Stolz zündete er mir mit seiner Lupe mit integriertem Licht in die Augen.
In der Ausstellung werden die Besuchenden auch gefragt, wann sie das letzte Mal einen Ortsplan in den Händen hielten. Die Frage geht davon aus, dass wir immer seltener eine klassische Karte aus Papier in die Hand nehmen, sondern in jeder Lebenslage das Smartphone zücken. Nach meiner einführenden Rede kam der Mann erneut auf mich zu und fragte: «Soll ich Ihnen verraten, wann ich das letzte Mal eine Karte in den Händen hatte?» Er lächelte und machte eine kurze Pause: «Gestern!»
Seit der Eröffnung im April bin ich diesem Herrn immer wieder in der Oberdorfstrasse begegnet, weil er in unmittelbarere Nähe zum Ortsmuseum wohnt. Wenn ich ihn grüsse, muss er bis auf einen Meter an mich herantreten, um mich zu erkennen. Dann reden wir über Zollikon, die Welt und alte Karten. Inzwischen weiss ich, dass er in Hamburg geboren ist und als schwedischer Generalkonsul in der Schweiz gearbeitet hat, was mir seinen Akzent, aber auch seine historische Weitsicht erklärt.
Ende Oktober stand ich im Foyer der Zentralbibliothek in Zürich am Zähringerplatz, das Ortsmuseum hatte im Rahmen der Ausstellung zu einer Exkursion in die Abteilung «Karten und Panoramen» eingeladen. 15 Personen hatten sich für die Exkursion angemeldet, es kamen jedoch 16.
Für mich als Leiter des Ortsmuseum sind neue Freundschaften ein bereichernder Teil meiner Arbeit. Es ist aber auch inspirierend zu sehen, wie man mit 90 Jahren noch so neugierig und offen sein kann für neue Erlebnisse und Einsichten – und wenn sie mit einer Lupe geschehen.»
* Bruno Heller, 36, stammt aus Wiesbaden, lebt aber schon mehr als zehn Jahre in Zürich. Er hat in Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert und anschliessend den Studiengang Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule für Künste absolviert. Seit 2022 leitet er das Ortsmuseum Zollikon. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt im Zürcher Kreis 6.
«Mit etwas Glück und Google Earth habe ich im Süden Korsikas, abseits der öffentlichen Pfade, einen versteckten Naturpool gefunden. Ein Glück auch, sich an einem solchen Ort tief mit der Natur verbunden zu fühlen.»
** Reto Schlatter hat uns für diese Serie acht Schwarz-Weiss-Bilder zur Verfügung gestellt, die er mit «Glück» in Verbindung bringt. Als Fotograf bewegt er sich seit über 30 Jahren zwischen journalistischen, kommerziellen und freien Arbeiten. Der Antrieb liege «im Reiz der Begegnungen mit Leuten aus verschiedenen Lebenswelten und dem Spiel mit Licht und den kompositorischen Möglichkeiten der Fotografie». Eine Auswahl seiner Bilder finden Sie auf seiner Website.