Willkommene Hilfe, wenn alles zu viel wird
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12. April 2023 – Isa P. und Martin S. sind Eltern der vierjährigen Sara und des siebenjährigen Pietro, der mit einer schweren Missbildung des Hirns geboren wurde. Dank der Hilfe von Dritten gelingt es dem Zolliker Paar, den schwierigen Alltag zu meistern – und ihm auch mal zu entkommen. (1 Kommentar)
12. April 2023 – Isa P. und Martin S. sind Eltern der vierjährigen Sara und des siebenjährigen Pietro, der mit einer schweren Missbildung des Hirns geboren wurde. Dank der Hilfe von Dritten gelingt es dem Zolliker Paar, den schwierigen Alltag zu meistern – und ihm auch mal zu entkommen.
Als Pietro auf die Welt kam, schien zunächst alles in Ordnung zu sein. Isa P., Marketingfachfrau aus Mailand, und ihr Mann Martin S., Richter in Zürich, freuten sich, dass die Geburt ihres ersten Kindes gut verlaufen war.
Doch schon bald traten bei dem Säugling gesundheitliche Probleme auf, die seine Eltern beunruhigten: ein Stau in der Niere, ein offener Leistenbruch. Mit viereinhalb Monaten kam es dann zu starken epileptischen Anfällen, die ein MRI unter Vollnarkose nötig machten. Das Ergebnis war niederschmetternd: Der Knabe litt unter schweren Fehlbildungen des Hirns. Bald war klar, dass Pietro ein Leben voller Einschränkungen und Beeinträchtigungen führen würde.
Heute benötigt der Bub durchgehend eine 1:1-Betreuung. Er kann weder gehen oder gesteuerte Bewegungen mit Rumpf und Armen machen, noch sprechen oder selber essen, dazu muss er Windeln tragen und schläft schlecht. Der Knabe hat einen wachen Blick, doch wieviel er von dem versteht, was seine Umgebung ihm sagt, wissen auch seine Eltern nicht immer ganz genau.
Kein eindeutiger Befund
Eine der ersten Fragen, die sich das Paar kurz nach der Diagnose stellte, war jene nach der Ursache: Woran lag es, dass Pietros Hirn derart geschädigt war? An einem genetischen Defekt? Waren die epileptischen Anfälle schuld? Die Tests und Untersuchungen ergaben kein eindeutiges Resultat. Immerhin konnten die Ärzte dem Paar mitteilen, dass ihr Risiko, ein weiteres Kind mit einer solchen Behinderung zu bekommen, bei «lediglich» 8 bis 10 Prozent lag.
Diese Information war für die beiden wichtig, weil sie sich ein zweites Kind wünschten. Gleichzeitig wussten sie aber auch, so Martin S., «dass noch ein Kind mit einer Behinderung wie die von Pietro die Kräfte von 99,99 Prozent aller Eltern übersteigen würde».
2019, drei Jahre nach Pietros Geburt, kam Sara auf die Welt. Isa P. lacht, als sie sich daran erinnert: «Ich wusste auf der Stelle, dass sie gesund ist.»
Eine Assistenzfrau und weitere Hilfen
Heute lebt die Familie gemeinsam mit einer Assistenzfrau in Zollikon in einer grosszügigen, barrierefreien Fünfeinhalb-Zimmerwohnung. Martin S. ist zu 100 Prozent berufstätig, seine Frau berät ein italienisches Unternehmen und arbeitet von daheim aus mit «sehr variablen Pensen».
Nachdem das Paar das erste Jahr mit Pietro als sehr streng erlebt hatte, weil es ganz auf sich allein gestellt war, nutzt es seither verschiedene Hilfsangebote. So betreut eine Mitarbeiterin der Kinderspitex den Knaben jede Woche während vier Stunden, in denen die Mutter oder auch beide Eltern ihre ungeteilte Aufmerksamkeit Sara schenken können.
Hin und wieder bringen sie Pietro auch für ein Wochenende in das Entlastungsheim «Sunnemätteli» in Bäretswil im Zürcher Oberland und geniessen es, nur mit ihrer kleinen Tochter zwei Tage lang alles machen zu können – «frei von Einschränkungen», wie Isa P. betont.
«Loslassen kostet Überwindung»
Es erfordere Mut, sagt Martin S., ein Kind wie Pietro in fremde Hände zu geben. Seine Frau nickt. Sie hätten diesbezüglich allerdings schon früh Erfahrungen sammeln können. So habe Pietro bereits im Alter von eineinhalb Jahren die integrative Kindertagesstätte Imago in Dübendorf besucht, wo er auch während zehn Wochenenden pro Jahr über Nacht und einmal sogar eine ganze Woche betreut worden sei.
Sie habe sich überwinden müssen, seufzt Isa P., um loslassen zu können: «Pietro war damals wirklich noch sehr klein.» Aber sie habe auch gespürt, dass ihre Ehe durch die familiäre Situation strapaziert werde und dass ihr Mann und sie wieder einmal Zeit zu zweit brauchten. So sagte sie schliesslich zu. Das Paar verbrachte eine Woche in Zypern und realisierte schnell, wie gut ihm diese Auszeit tat.
Familienhilfe von hiki
Als Pietro vier Jahre alt war, lief seine Zeit in der Kita ab. Die Eltern wurden auf den Verein hiki und die sogenannte Familienhilfe aufmerksam gemacht, die inzwischen «Entlastung in der Familie» heisst. Die Idee faszinierte sie. Seither kommt die Fachfrau Verena Bont zweimal pro Jahr für sieben bis acht Tage zu ihnen nach Hause, betreut beide Kinder, führt den Haushalt und ermöglicht den Eltern damit Ferien zu zweit.
Das klappe gut, sagt Isa P. Pietro zeige jeweils sehr deutlich, ob er eine fremde Person möge oder nicht: «Verena ist ihm offensichtlich sympathisch. Sonst würde er nicht so strahlen, wenn er sie sieht.»
Sara tat sich anfangs etwas schwerer: «Beim zweiten Einsatz hat sie realisiert, dass wir weggehen, wenn Verena kommt. Dann sind natürlich die Tränen geflossen.» Doch auch sie habe sich schnell an die Betreuerin gewöhnt und begegne ihr freundlich und entspannt.
Die Eltern sind dankbar und glücklich, dass sie auf die hiki-Mitarbeiterin zählen können. Sie wissen am besten, wie anstrengend es ist, eine knappe Woche mit dem Buben zu verbringen. Vor allem in der Anfangszeit habe Pietro grosse Mühe mit dem Essen gehabt. Zum Einen habe er wegen seiner Epilepsie eine spezielle Diät gebraucht, die aufwändig in der Zubereitung sei. Und noch heute erfordere es viel Geduld, ihm das Essen zu geben.
Verena sei sehr kreativ und habe beispielsweise gemerkt, dass er gern in seinem Stehbrett esse statt in seinem Rollstuhl. Martin S. ergänzt: Der Umgang mit Pietro sei nicht nur wegen seiner Hilfsbedürftigkeit besonders anspruchsvoll, sondern auch deshalb, weil er nicht sagen könne, was ihm fehle: «Das heisst, man muss ständig selber herausfinden, was er braucht.» Dazu sei viel Vertrautheit nötig, an der es Verena Bont zu Beginn natürlich noch gefehlt habe.
Um dieses Manko mindestens ein Stück weit auszugleichen, verbringen die Eltern und die Betreuerin, eine ausgebildete Kinderphysiotherapeutin, die ersten 24 Stunden jeweils gemeinsam in der Zolliker Wohnung. Verena Bont lernt dabei den Ablauf eines normalen Wochentags kennen: Welche Medikamente bekommt Pietro? Wann muss er ins Bett? Wann und wie kommt Sara in die Kita? Was hat sich seit dem letzten Einsatz geändert?
Der Computer als Tor zur Aussenwelt
Die Betreuerin erfuhr auch, dass Pietro in starkem Masse auf seinen augengesteuerten Sprachcomputer angewiesen ist. «Der Computer ist sein Tor zur Aussenwelt», ergänzt seine Mutter. Sobald er 0,7 Sekunden lang auf eines der Bilder schaue, sagt das Gerät beispielsweise «Männli», und den Anwesenden ist klar, dass er seine Playmobil-Figürchen haben möchte. Oder er blickt auf ein Bild mit einem Glas, worauf das Gerät «Wasser» sagt und seine Eltern wissen, dass er Durst hat.
Nach der ersten Einführung verabschiedete sich das Paar und trat seine fünftägige Reise ins Ausland an. Martin S. sagt lachend: «Wir wollten nicht ins Berner Oberland, wir wollten ins Ausland und sind geflogen, um wirklich Distanz zu unserem Familienalltag zu bekommen.» Gleichwohl hätten sie jeden Tag mit Verena Bont telefoniert, die vor allem während ihres ersten Einsatzes viele Fragen hatte: Ist es normal, dass Pietro so wenig isst? Was kann man tun, wenn seine Verdauung so schlecht ist?
Inzwischen kennt die erfahrene Fachfrau Pietro, aber auch seine kleine Schwester Sara viel besser. Ihre gemeinsamen Wochen sind denn auch frei von Problemen verlaufen. Isa P. schätzt es besonders, dass Verena Bont zu ihnen nach Hause kommt, in die vertraute Umgebung ihrer Kinder: «Das macht für uns Vieles leichter.» Auch Pietro und Sara seien entspannter, wenn sie nicht wegmüssten. Fragt man das Paar, wie sie das hiki-Angebot beurteilen, ist grosse Begeisterung spürbar: «Es leistet Überlebenshilfe für unsere Ehe», sagt Martin S.
Wechsel als Belastung
Allerdings steht dem Paar erneut eine anstrengende Zeit bevor, denn die italienische Assistenzfrau kehrt in den nächsten Monaten nach drei gemeinsamen Jahren in ihre Heimat zurück. Martin S. stöhnt: «Vor uns steht der Abschied, dann die Suche nach einer geeigneten Nachfolgerin und schliesslich das neuerliche Kennenlernen und sich Aneinander gewöhnen – das kann garstig werden.» Um so mehr freue er sich schon jetzt auf die Woche im Juni, wenn Verena Bont wieder bei ihnen einzieht und er mit seiner Frau fünf Tage in die Ferien fahren kann. (bl)
Dieser Artikel erschien zuerst im Jahresbericht 2022 des Vereins hiki – Hilfe für hirnverletzte Kinder. Der Verein hiki (www.hiki.ch) unterstützt und entlastet Familien mit hirnverletzten Kindern. Sein Angebot für betroffene Familien umfasst Beratung, Informationen zu Hirnverletzungen, Entlastung durch Fachpersonen, finanzielle Direkthilfe und Veranstaltungen für die ganze Familie.
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Ein wertvoller Beitrag. Ich wünsche der Familie viel Unterstützung und Durchhaltevermögen.