«Wir bewegen uns auf einem schmalen Grat»
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15. März 2022 – Die Zolliker Familie Ulrich hat zwei Frauen und ein Kind aus Kiew aufgenommen. Katrin Ulrich erzählt, wie es dazu gekommen ist und welche Herausforderungen zu meistern sind. Am Dienstagabend war sie zu Gast im «Club» des Schweizer Fernsehens, das auch eine Schaltung nach Zollikon machte.
INTERVIEW: RENE STAUBLI
Frau Ulrich, Sie beherbergen in Ihrem Haus zwei Frauen und ein Kind, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Ein solcher Entscheid reift gewiss nicht über Nacht. Wie ist es dazu gekommen?
Unser Haus, in dem wir seit acht Jahren wohnen, war ursprünglich ein Dreifamilienhaus. Wir haben es kürzlich für unsere Bedürfnisse umgebaut. In jener Zeit bekam unser Schwiegervater eine Krebsdiagnose und meine Mutter wenig später ebenfalls; er starb vor Weihnachten. Mein Mann und ich haben viele Gespräche über den Sinn des Lebens, unseres Lebens, geführt. Er ist Chirurg an der Balgrist-Klinik, ich bin selbständig und berate derzeit Frauen von frühgeborenen Kindern und solchen, deren Babys vor oder während der Geburt gestorben sind. Wir waren uns einig über den hohen Stellenwert von Beziehungen zu Freunden, zur Familie, zu Menschen ganz allgemein. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, mussten wir nicht mehr gross diskutieren. Wir haben uns bei Campax angemeldet, jener Organisation, die in der Schweiz innert einer Woche Tausende von Betten für Flüchtlinge organisiert hat.
Dann hat Ihnen Campax die drei Flüchtlinge zugewiesen?
Nein, es gab eine überraschende Wende. In der Klasse meiner achtjährigen Tochter ist ein Bube, dessen Vater aus der Ukraine stammt. Seine Mutter Julia verschickte im Klassenchat Infos zur Situation im angegriffenen Land. Ich fragte sie, ob wir helfen könnten. Sie sagte: «Könnt Ihr zwei Frauen und einen Buben aufnehmen? Ich sagte: «Ja, wir haben genügend Platz in unserem Haus.»
Wie ging es weiter?
Julia sagte uns, die Frauen kämen nach einer viertägigen, sehr beschwerlichen Autofahrt wohl in der Nacht auf den 8. März in Zollikon an. Wir vereinbarten, dass sie zuerst bei ihr unterkommen sollten. Am nächsten Morgen kamen dann alle zu uns. Als es klingelte, waren wir natürlich ganz aufgeregt. Zuerst haben wir uns kurz bekannt gemacht mit der 29jährigen Irina und ihrem vierjährigen Buben Vlad – sie hat ihren Mann in Kiew zurückgelassen. Die 30jährige Veronika ist alleinstehend und war politisch aktiv. Anschliessend haben wir ihnen das Haus gezeigt, die beiden Gästezimmer im Dachgeschoss und ihr Badezimmer. Mit dem Kleinen war es ganz unkompliziert: nach zehn Minuten spielte er schon mit den Autos unseres Sohnes, der noch im Kindergarten war.
Plötzlich wildfremde Leute im Haus, deren Leidensgeschichte man noch nicht kennt. Wie haben Sie miteinander gesprochen – deutsch, englisch?
Beide Frauen sprechen nur ein paar Brocken Englisch. Unsere Rettung war die Google Translate-App. Sie erlaubt eine simultane Unterhaltung. Ich sage einen Satz in Hochdeutsch, das Gerät zeigt ihn sofort in ukrainischer Sprache an und umgekehrt. Man kann das sogar über den Lautsprecher nehmen. Das ist natürlich sehr hilfreich und manchmal auch lustig. Einmal fragte uns Irina, wo es einen «Kinderkreis» habe. Wir fanden dann heraus, dass sie das ukrainische Wort für «Kinderspielplatz» gebraucht hatte. Ohne diese App wären wir in jeglicher Hinsicht verloren.
Sie kennen diese Menschen nur oberflächlich, wissen nicht, ob sie in ihrer verzweifelten Lage Nähe brauchen oder Distanz, ob sie psychologische oder materielle Hilfe benötigen, was sie den ganzen Tag über, abends und am Wochenende machen möchten. Wie kommen Sie damit zurecht?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Was wir ganz spontan an Hilfe leisten wollen, ist vielleicht nicht das, was die Flüchtlinge tatsächlich brauchen. Natürlich habe ich sofort mein Netzwerk aktiviert und Freundinnen gebeten, Kleider in den passenden Grössen vorbeizubringen. Ich sah ja, dass die Frauen nur das Nötigste bei sich hatten. Als meine Freundinnen gegangen waren, fragte mich Veronika: «Meint ihr, wir seien arm?» Da merkte ich, dass wir uns auf einem ganz schmalen Grat bewegen.
Was meinen Sie damit?
Anders als viele Flüchtlinge, die zu uns kommen, weil sie ihre Zukunft bei uns sehen, wollen diese Frauen möglichst bald zurück zu ihren Familien in der Ukraine. Sie haben bis zum Tag des Angriffs ein ganz normales Leben geführt, haben gearbeitet, sind abends ins Kino gegangen, haben eine gute Ausbildung, standen mitten im Leben. Sie sind geflüchtet, weil Sie Angst hatten, im Krieg zu sterben.
Mit andern Worten: Sie mussten Ihr Verhalten als Gastgeberin anpassen.
Inzwischen verlasse ich mich auf mein Bauchgefühl. Die Kleider habe ich fürs Erste beiseitegelegt und den Frauen gesagt: wenn ihr meine Unterstützung braucht, dann bin ich da. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich die Retterin sei und sie die Opfer. Die Frauen fühlen sich nicht als Opfer. Sie haben Angst um ihre Angehörigen und Freunde, aber sie sind nicht deprimiert, sondern stolz auf ihr Land und ihren Präsidenten. Natürlich spreche ich sie auf gewisse Dinge an, frage, ob ich ihnen die Umgebung zeigen soll, die Spielplätze, wo man joggen oder einkaufen kann. Einfach die grundlegenden Dinge.
Was benötigen die Frauen in erster Linie?
Die beiden wichtigsten Dinge sind WLAN und die Möglichkeit, sich mit Landsleuten auszutauschen. Sie fragten mich, ob andere Flüchtlinge aus der Ukraine in der Nähe seien und ob sie sie treffen könnten. Ich habe mich an den reformierten Pfarrer Simon Gebs gewandt. Nach einer Sitzung mit Vertretern der Gemeinde und der Kirche sagte er, dass das Café am Puls im Zollikerberg für einen solchen Treffpunkt zur Verfügung stehe.
Wie allgegenwärtig ist der Krieg auch in Ihrem Wohnzimmer?
Als wir am ersten Abend beisammen sassen und die Frauen mit ihren Angehörigen über Skype telefonierten, flossen viele Tränen. Es hat unsere ganze Familie sehr bewegt, als sich Irinas Mann bei uns dafür bedankte, dass seine Frau und sein Kind bei uns in Sicherheit sind. Die Wohnungen beider Frauen sind von den Russen ausgebombt worden. Dahin, wo sie bis vor kurzem lebten, können sie nicht zurück. Wenn man die Flüchtlinge bei sich zuhause hat und auf dem Bildschirm den Vater und die Grossmutter sieht, oder wenn auf dem Handy der Frauen ein Alarm losgeht und sie uns sagen, das sei der Bombenalarm in Kiew, kommt einem der Krieg plötzlich ganz nahe. Was tut man dann? Man kann jemanden in den Arm nehmen, mehr geht nicht.
Zurück zum Alltag in Zollikon: Einkaufen, kochen, miteinander oder getrennt essen, den Abend miteinander verbringen oder separat, und nicht zuletzt die Sache mit dem Geld – wie funktioniert das?
Wir haben den Frauen gesagt, dass sie alles nehmen können, was da ist, dass sie sich bei uns wie zuhause fühlen sollen. Aber das sagt man natürlich so leicht daher, denn es gibt Unterschiede. Sie essen gerne warm am Morgen, was uns fremd ist. Manchmal essen wir am Abend zusammen, manchmal kochen sie für sich selber, die Frauen entscheiden das. Oft ziehen sie sich abends zurück, um in ihren Zimmern mit ihren Angehörigen oder Freunden zu skypen. Natürlich wird früher oder später auch das Geld zum Thema werden. Wir kommen für die Kosten auf, kaufen meist für alle ein, das ist unser Beitrag. Wir wissen, dass der durchschnittliche Monatslohn in der Ukraine bei 400 Euro liegt. Bei uns reicht das nicht sehr weit. Auch hier gilt, dass man den richtigen Moment abwarten muss, um das Thema anzusprechen – oder um sich ansprechen zu lassen.
Sie hatten bis vor einer Woche als vierköpfige Familie in einem dreistöckigen, geräumigen Haus viel Privatsphäre. Nun sind sie plötzlich zu siebt. Wie gehen Sie damit um?
Am Anfang weiss man nicht, wie viel Nähe es erträgt und wie viel Distanz nötig ist. Es ist nicht selbstverständlich für unsere Kinder, dass von heute auf morgen drei Menschen bei uns wohnen, die sie noch nie gesehen haben, und dass ein anderes Kind mit ihren Sachen spielt. Dass meine Kinder nicht so gut schlafen zeigt, dass es einen Gewöhnungsprozess braucht.
Beim Zusammenleben können Kleinigkeiten irritieren …
Beim ersten gemeinsamen Abendessen staunten unsere Kinder über unterschiedliche Tischsitten. Oder wir stellten spätabends fest, dass die Frauen aus dem dritten Stock hinunter in die Küche gingen, um Wasser zu holen, obwohl ich ihnen oben Gläser hingestellt hatte. Es stellte sich heraus, dass in Kiew nur das Wasser trinkbar ist, das aus dem Hahn in der Küche kommt.
Mit der Zeit entstehen auch Bindungen.
Die entstehen sogar überaus schnell. Veronika ist sehr herzlich mit den Kindern, sie lernt mit meiner Tochter Deutsch. Wenn sie joggen oder einmal allein nach Zürich geht, sind meine Kinder durcheinander und fragen: Wo ist Veronika, wann kommt sie wieder? Wir fragen uns, wie schmerzhaft es sein wird, wenn die beiden Frauen wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Bald kommt Ostern. Könnten Sie mit Ihrer Familie vier Tage weg, wenn Sie das möchten?
Diese Frage haben mein Mann und ich uns gerade gestern gestellt. Wie machen wir das? Wie bewahren wir uns unsere Freiräume? Wir waren froh, dass wir am letzten Wochenende nach der strengen Anfangsphase als Familie etwas unternehmen konnten, während Veronika, Irina und Vlad bei Julia einen Besuch machten. Ich hatte das Gefühl, es habe allen gut getan. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Flüchtlinge Kontakte zu ihren Landsleuten in der Gemeinde und in der Region aufbauen können. Das eröffnet ihnen und uns Auszeiten.
Man weiss nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird. Beängstigt Sie der Gedanke, dass es Ihnen nach Wochen oder Monaten zu viel werden könnte? Wer ist dann für Sie und Ihre Familie da?
Wir sind sehr froh, dass Pfarrer Gebs dieses Thema angesprochen hat. Die Gemeinde und die Kirchen wollen den Gastfamilien Unterstützung anbieten, wenn diese nötig sein sollte. Im Moment geht es sehr gut, aber mein Mann und ich sind uns bewusst, dass uns das Zusammensein eines Tages auch überfordern könnte. Wir haben uns unter anderem die Frage gestellt, was wir täten, wenn der Papa von Vlad im Krieg sterben würde. Für eine solche Notsituation sind wir nicht ausgebildet. Da bräuchten wir Beistand. Pfarrer Gebs hat uns versichert, dass man uns nicht allein lässt. Er hat eine schöne Parallele zum Sprichwort «It takes a village to raise a child» gezogen: Es braucht das ganze Dorf, um die Flüchtlinge aus der Ukraine zu betreuen.