«Wo ist der ‹Grüne Heinrich› geblieben?»
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Ich wundere mich über viele Dinge. Zum Beispiel über den Frühling, der jedes Jahr wieder seine ganze Kraft zusammennimmt, um die Äste der Bäume gratis und franko mit grünem Laub zu schmücken.
Zuverlässig und treu verschönert er mit seinem Grün alles, was wir lieben an unserer Stadt. Nachsichtig verdeckt er all die Bausünden und Baustellen, die wir lieber nicht sehen möchten.
Ich wundere mich auch, wenn ich über das Bellevue in Zürich gehe und den Tea Room «Grüner Heinrich» nicht mehr sehe. Wo ist er nur geblieben, dieser Sehnsuchtsort meiner Kindertage? Seinerzeit befand er sich an der Theaterstrasse, dort wo heute Handys und Tablets verkauft werden, gleich neben dem Teppich-Forster.
Alle Stadtausflüge mit meiner Mutter endeten in diesem Café. So ein Nachmittag in der Stadt war für mich ein grosses Ereignis.
Die Schatten, die es vorauswarf, erfüllten mich mit Vorfreude. Nach dem Mittagessen gab es für meine Mutter geheimnisvolle Dinge zu tun. Die Handtasche kam aus ihrem Versteck und knipste auf und zu. Aus dem Badezimmer kam ein feiner Parfümgeruch, ein Klicken kündigte den Gebrauch des Lippenstifts an. Danach sprach meine Mutter mit dem Kochherd. Sie sah ihn lange an und sagte zwei-, dreimal «null-null-null». Ich stellte mir vor, dass das ein Zauberspruch sei, denn ich las gerade die Geschichte vom Kalif Storch.
Nachdem sie den Kochherd verzaubert hatte, konnten wir aufbrechen. Der Weg zur Forchbahn war kurz, die Zeit im Wartehäuschen kam mir dagegen lang vor. In der Rehalp mussten wir ins Elfer-Tram umsteigen. Darin sass ein freundlicher König auf seinem Thron. Er erlaubte uns, mit seinem Tramwagen mitzufahren. Meine Mutter musste dafür bezahlen, ich durfte gratis fahren. Wir bekamen ein Billett mit einem Loch drin.
An der Bahnhofstrasse erlebte ich weitere Märchen. Manchmal brauchte ich neue Schuhe. Dann durfte ich im Schuhgeschäft auf einer Holzrutschbahn in die Kinderabteilung hinunterzuckeln. Dort besprach meine Mutter mit der Verkäuferin, dass meine Füsse schon wieder so schnell gewachsen seien. Misstrauisch betrachtete ich meine Füsse. Wie gross würden die wohl werden, bis ich erwachsen war? Die Schuhe wurden an der Kasse bezahlt und in eine Schachtel verpackt. Ich freute mich natürlich über die Schuhe, noch viel mehr aber über die Schachtel. Was konnte man alles mit der anfangen!
Oft ging es danach zur Frawa. Meine Mutter war handwerklich sehr begabt und nähte alle unsere Kleider selber. In der Frawa kaufte sie die Stoffe dafür. In der Stoffabteilung lagen unendlich viele Stoffballen genau auf meiner Augenhöhe. Ich konnte nicht verstehen, wie meine Mutter aus dieser Fülle einen Stoff auswählen konnte.
In der Mercerieabteilung kaufte sie den passenden Faden. Elegante Damen zogen die Spulen aus zahllosen Schubladen. Ich hörte zu, wie sich meine Mutter angeregt mit ihnen unterhielt. Es wurden Farben verglichen, Knöpfe, Schneiderkreide und Fadenschlag gekauft und die Schnittmuster studiert. Ich wunderte mich: Wie um alles in der Welt konnten sich diese Stoffe in Kleider verwandeln? Brauchte es dazu auch einen Zauberspruch?
Endlich verabschiedete sich meine Mutter von den eleganten Damen. Wir spazierten langsam über den Rennweg und die Strehlgasse zum Bellevue zurück. Dort wartete der «Grüne Heinrich».
Dieser Tea Room war dunkel und gemütlich. Als wir eintraten, mussten wir zuerst einen schweren Ledervorhang bekämpfen, um mit dem warmen Duft von Kaffee und Patisserie belohnt zu werden. Ich kann mich nicht erinnern, was ich dort zu trinken bekam. Wahrscheinlich einen Himbeersirup. Für Patisserie reichte unser Budget nur an offiziellen Festtagen. Ein kleines Fest allein mit meiner Mutter musste ohne Kuchen stattfinden. Das machte nichts. Unser Stadtausflug fand auch so seinen perfekten Abschluss.
Nach dem Besuch im «Grünen Heinrich» nahmen wir den Elfer bis zur Rehalp. Dort wartete meistens kein blauer «Pendler», wie die kurze Forchbahn-Formation zwischen Rosengarten und Rehalp genannt wurde. So bummelten wir durch den Wald hinauf nach Hause zurück.
Warum ich das alles erzähle? Weil ich heute morgen festgestellt habe, dass es wieder ein Café «Grüner Heinrich» gibt. Nur leider nicht in Zürich. Vielmehr trägt ein «Bett & Frühstück mit Café und Unverpackt-Laden» in der Nähe von Klagenfurt diesen Namen.
Die grüne Farbe steht also nicht für das Röcklein von Heinrich Lee im Roman von Gottfried Keller. Sie steht auch nicht für die optimistische Kraft des Frühlings, der alle Jahre die Bäume wieder grün färbt wie in Mozarts Melodie. Sondern sie steht für das nachhaltige Konzept des Unternehmens – auch wenn ich mir den leibhaftigen Grünen Heinrich nicht unverpackt, ganz ohne sein grünes Wämschen, vorstellen möchte.
Zu guter Letzt wundere ich mich darüber, dass es in unserer Stadt noch niemandem in den Sinn gekommen ist, das Andenken an dieses wunderbare Café, an Gottfried Keller und an sein berühmtes Buch mit einem neuen Lokal wieder aufleben zu lassen. Sein Platz wäre natürlich am Bellevue, wo nächstes Jahr der Globus wohl seinen Standort aufgeben wird. Vielleicht bekommt der Grüne Heinrich sein Café zurück?»
Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Vor einem Jahr ist sie ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.