Zu Fuss durch den «Schweizer Grand Canyon»
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Adrian Michael: «Durch die ‹Ruinaulta› bin ich mit dem Zug oft gefahren und war immer wieder aufs Neue fasziniert von den imposanten Felsformationen und dem wild fliessenden Vorderrhein. Nun will ich die Schlucht zu Fuss durchqueren.»
Die manchmal auch als «Schweizer Grand Canyon» bezeichnete «Ruinaulta» liegt in der Surselva zwischen Ilanz und dem Zusammenfluss von Hinter- und Vorderrhein bei Reichenau. Sie entstand vor rund 10’000 Jahren, als beim Flimser Bergsturz über 10 Milliarden Kubikmeter Fels abbrachen und das Vorderrheintal unter einer mächtigen Schuttmasse begruben. Da der Vorderrhein nicht mehr abfliessen konnte, entstand ein 25 Kilometer langer See. Nach und nach frass sich der Fluss tief in die lockeren Bergsturzmassen hinein, und es entstand die Schlucht mit ihren steilen, mehrere hundert Meter hohen Klippen, den «Ruinas».
Vom Bahnhof Ilanz aus gelange ich nach wenigen Metern zum Vorderrhein. Ein breiter Kiesweg führt flussabwärts, das Rauschen des Flusses vermischt sich mit dem Rauschen der Kantonsstrasse auf der anderen Seite. Der Himmel ist milchig bedeckt, es ist frisch. Im Auenwald spriesst erstes helles Grün aus Birken, Hasel und anderem Gehölz. Munteres Vogelgezwitscher erklingt.
Auf einem Damm führt ein Wurzelweg Richtung Castrisch, der Damm soll die sattgrünen Wiesen vor allfälligem Hochwasser schützen. Links nun die Gewerbezone von Ilanz, die so daherkommt wie derartige Zonen halt sind: mittelschön. Schöner hingegen die ersten blühenden Kirschbäume und Schwarzdorn-Büsche, die sich vom Hellgrün der Bäume abheben.
Das blaue Band des Frühlings, wie es Mörike in seinem Gedicht besingt, ist deutlich zu spüren, die Veilchen und Schlüsselblüemli am Wegrand passen dazu. Eine Wiese ist überflutet, kleine Bäche führen tüchtig Wasser, es scheint ausgiebig geregnet zu haben. Links oben thront auf seiner Sonnenterrasse das Dorf Falera, geradeaus ist Sagogn, in dem der Spitzenkoch Caminada aufgewachsen ist.
Von der Schlucht ist noch nichts zu erkennen, der Weg folgt auf einer Ebene direkt dem Gleis der RhB. Aber bald sind gegenüber einer Kiesbank erste Anzeichen erkennbar: Hier hat der Fluss das linke Steilufer deutlich angeknabbert.
Wenig später ist schön zu sehen, wie dem unverbauten Vorderrhein Raum gelassen wird, ohne seitliche Stein- oder Betonmauern kann er sich ungehindert ausbreiten. Vor Tausenden von Jahren hat er sich tief in die Gesteinsmassen gegraben und dabei am linken Ufer eine mächtige Höhle ausgewaschen.
Immer wieder machen Tafeln am Wegrand darauf aufmerksam, dass derzeit die Uferzonen nicht betreten werden sollten. Während in Zollikon die Hunde im Wald an der Leine geführt werden müssten, wird hier auf Flussuferläufer und Flussregenpfeifer Rücksicht genommen. Am Wegrand unterhalb des Bahngleises entdecke ich mehrere rätselhafte Konstruktionen. Wozu mögen sie gut sein? Vielleicht wird ja etwas gemessen? Luftfeuchtigkeit vielleicht, das Wachstum der Pflänzchen darunter, die Anzahl der vorbeikommenden Schnecken?
Der Wanderweg wird gut gepflegt. Links und rechts ist ausgeholzt worden, und die Bretterstiege, die ab und zu über ein Bächlein führen, sind mit Chüngelidraht überzogen, damit auch ja keiner ausschlipft. Nach anderthalb Stunden gelange ich zum Bahnhof von Valendas-Sagogn, der erste von den drei Bahnhöfen in der Schlucht. Hier lasse ich mich nieder und gönne mir ein Hopfen-Smoothie.
Dann geht’s weiter, alles direkt dem Rhein entlang. Der Sonne ist es mittlerweile gelungen, die Milchwolken etwas aufzulösen, es wird spürbar wärmer. In einer Galerie der Bahn prangt an der Betonwand ein interessantes Gemälde. Das Internet verrät mir, dass es sich um das Wappen der Gemeinde Safiental handelt, also gewissermassen ein heimatkundliches Werk. Die schwarz-weisse Ergänzung daneben bleibt rätselhaft.
Die zu Beginn erwähnten Niederschläge müssen sehr lokal gewesen sein, hier sind alle kleinen Bachläufe ausgetrocknet. Dafür tragen die Bäume deutlich mehr helles Grün. Woran das liegen mag? Vielleicht daran, dass es hier doch recht windgeschützt ist? Fragen über Fragen. Der Rhein fliesst hier sehr ruhig, wie wenn er sich sammeln müsste für das, was noch vor ihm liegt. Am Ufer zwitschert aus einem Gehölz scheu ein Vögelchen. Meine App weiss, dass es ein Zilpzalp ist, ein passender Name.
Nun komme ich zu einer weiten Kiesfläche, durch die sich der Carrerabach einen Weg bahnt, bevor er in den Rhein mündet.
Das Delta ist vor ein paar Jahren mit beachtlichem Aufwand erweitert worden. Eine Tafel informiert: Da der Bach jährlich 20’000 bis 40’000 Kubikmeter Geschiebe mit sich führt, wurde hier Raum geschaffen, damit sich das Geröll ausbreiten kann. Nach und nach wird es dann vom Rhein weggeführt; Geschieberückgabe heisst das in der Fachsprache. Auf der anderen Flussseite hat der Rhein am Fuss einer Felswand einen kleinen Tunnel ausgefräst.
Links am Wegrand steht später eine interessante Installation aus gerostetem Eisen, an der seitlich ein Rad angebracht ist. Eine Infotafel erklärt: Wenn man wirklich ganz doll schnell am Rad dreht, ertönt aus einem Lautsprecher eine Stimme, die über Sehenswürdigkeiten informiert. Witzig. Mittlerweile ist der Weg zu einem Strässchen geworden, aber mit Naturbelag. Von zahlreichen Erika-Stauden gesäumt, führt er oberhalb der Gleise talwärts. Nach der Station Versam mit seiner Kanuschule führt der Weg streckenweise über einen Damm. Dieser wurde aufgeschüttet, um das darunter verlaufende Gleise von herabfallenden Steinen zu schützen.
Auf den hochragenden Türmen sitzen rechts oben wie Mützen Erdschichten, auf denen Büsche wachsen. Das Mikroklima hat sich deutlich verändert. Laubbäume gibt es nur noch wenige, dafür Föhren, Rottannen, Wachholdersträucher und zahlreiche Erika.
Nun beginnt die Schlucht ihrem Namen aller Ehre zu machen. Links türmen sich mehrere hundert Meter hoch senkrechte Felswände, oben stehen die Tannen wie ein Bürstenschnitt auf einem Kopf. Wieder führt der Weg über einen ausgeschütteten Damm. In der Mulde dahinter zeugen Gesteins- und Geröllmassen und mächtige Baumstämme davon, was bei einem Unwetter alles herunterdonnern kann.
Auf einer Sandbank picknickt fröhlich eine Familie. Dass sich Sand- und Kiesbänke vorzüglich dafür eignen, ist ja nachvollziehbar. Bleibt zu hoffen, dass das die Strandläufer auch so sehen. Später geht es direkt dem Rhein entlang. Hier ist das Ufer mit mächtigen Steinblöcken geschützt. Vermutlich ging es da weniger um den Schutz des Wanderweges als vielmehr um den Schutz der Gleise unmittelbar oberhalb des Wanderweges. Immer wieder fahren Züge vorbei, darunter auch der Glacier-Express.
Jetzt wendet sich der Rhein in einem spitzen Winkel nach Norden. Dort vollführt er eine Schlaufe und fliesst um die so entstandene Halbinsel wieder zurück. Der Weg überquert das Hindernis mit einem giftigen An- und fast ebensolchen Abstieg. Zum Glück steht oben ein Bänkli, wo ich mein Sandwich verzehren kann.
Auf der anderen Seite kann man zuoberst eine Plattform erkennen, die einen spektakulären Ausblick über die Ruinaulta bietet. Sie heisst «Il Spir», die rätoromanische und (alt-)schweizerdeutsche Bezeichnung für einen Mauersegler – wie dieser hat sie die Form eines Dreiecks.
Dann nimmt der Wanderweg einen unerwarteten Verlauf: Über eine steile Metalltreppe erreiche ich die Brücke, die Bahn und Wanderweg auf die andere Flussseite führt.
Dann gilt es Ernst: Zweihundert Höhenmeter stehen mir bevor. Auf dem folgenden Flussabschnitt gibt es keinen Wanderweg, dafür seltene Vögel, die Ziegenmelker heissen, Hirsche und Gämsen. Schade, diese Strecke wäre die spannendste der ganzen Route gewesen. Beim Aufstieg bin ich froh, dass der Himmel etwas bedeckt ist, wenn schon steil, dann wenigstens nicht in praller Sonne. Aber auch dieser Anstieg geht vorbei, und oben werde ich mit frischem Wasser aus einem kleinen Brunnen belohnt.
Ein breiter Weg führt mich durch einen menschenleeren Wald mit Rottannen und Föhren. Dann merke ich bei einem Blick auf die Karte, dass ich mich verlaufen habe. Vor lauter Erleichterung oben zu sein, habe ich nicht gemerkt, dass ich nämlich noch gar nicht zuoberst war, der Weg führte noch weiter schräg den Hang hinauf. Jä nu, zum Glück noch rechtzeitig gemerkt, bevor ich irgendwo im Schilf landete. Also rechtsumkehrt.
Schliesslich erreiche ich doch noch den Punkt, wo mein Anstieg in die «Senda Sursilvana» mündet. Dieser Fernwanderweg beginnt in Andermatt und führt in 120 Kilometern nach Chur. Durch liebliche, mit blühenden Obstbäumen bepflanzte Wiesen und an vereinzelten Ställen und Höfen vorbei geht es immer schön geradeaus.
Aber schon bald hat das geruhsame Spazieren ein Ende: Auf einem schmalen Abstieg ist Konzentration angesagt. Der Weg überquert den von Flims herabfliessenden Flem und wendet sich dann wieder leicht aufwärts.
In der Folge wiederholt sich, was ich auf dieser Wanderung vermehrt schon festgestellt habe: Fast alle 500 Meter führt der Weg durch eine andere Landschaft. Mal über Wiesen wie jetzt grad, direkt dem Fluss oder dem Bahngeleise entlang, durch trockene Gegend, dann wieder durch feuchte Auenwälder. Oder grad wie hier einem Abgrund entlang, wo Regen und Unwetter grosse Teile der Wiese abgefressen haben.
Schön ist es, hier oben zu gehen. Sattgrüne Wiesen wechseln sich ab mit lauschigen Waldrändern mit schneeweiss blühenden Bäumen und Sträuchern – und immer wieder farbigen Teppichen aus kleinen Blumen. Dass am Wegrand immer wieder Brunnen stehen, weiss ich sehr zu schätzen. So gelange ich schon bald zum Dorf Trin, wo auf einem Fels der mächtige Turm der ehemaligen Burg Canaschal thront.
Ich streife den Dorfteil Digg an seinem unteren Ende und komme an einer Strasse mit einem höchst interessanten Namen vorbei: Via Gnugnegn heisst sie, benannt nach einem Flurnamen, wohl für jeden nicht rätoromanischen Sprechenden eine linguistische Herausforderung.Nach Trin-Digg folgt ein wenig attraktiver Abschnitt: Zum Bahnhof hinunter in der Schlucht führt nur eine Strasse mit Hartbelag. Sie lässt sich nicht vermeiden, aber zum Glück gibt’s zum Schluss eine Abkürzung: ein schmaler Weg steil den Wald hinunter. In der sympathisch alternativ angehauchten «Realisierbar» bei der Bahnstation Trin belohnte ich mich mit einem erfrischenden Hopfengetränk.
Nach dieser, wie ich finde, wohlverdienten Stärkung besichtige ich die über hundert Meter lange Hängebrücke «Punt Ruinaulta» gleich daneben, dann nehme ich bei schönsten Wetter die letzte Etappe nach Reichenau in Angriff.
Ein schmaler Pfad führt talwärts, rechts fliesst friedlich der Vorderrhein. Eindeutige Spuren zeugen davon, dass sich hier offenbar auch Biber herumtreiben.
Schon bald verengt sich das Tal, der Rhein strömt kräftiger. Eine Tafel warnt vor Steinschlag und empfiehlt, nicht stehen zu bleiben. Geradeaus stehen hoch auf einem Hügel die spärlichen Mauerreste der ehemaligen Burg Wackenau aus dem 13. Jahrhundert. Über ihre Geschichte ist praktisch nichts bekannt. Der Weg führt jetzt über einen Holzsteg direkt der Bahnlinie entlang.
Zum letzten Mal verengt sich hier das Tal zu einer Schlucht, links und rechts steigen die bewaldeten Hänge steil in die Höhe. An einer Felswand auf der gegenüberliegenden Seite zeigen Tafeln an, wie unglaublich hoch das Wasser 1927 und 1987 stand, das muss ein dramatischer Anblick gewesen sein!
Nun weitet sich das Tal, breit und ruhig umströmt der Rhein Kies- und Sandbänke. Dann gibt’s wieder einmal eine Metalltreppe, sie führt auf einen Felsklotz. Darauf steht ein Kreuz, darunter soll eine kleine Madonna in einer Nische Schutz vor Hochwasser spenden. Gleich darauf folgt die dritte Metallbrücke, sie führt Wanderweg und Bahn wieder auf die rechte Flussseite.
Damit hat mich die Zivilisation wieder. Auf einem Strässchen geht es auf Reichenau zu. Die letzte Brücke über den Hinterrhein führt sozusagen im Untergeschoss der alten Eisenbahnbrücke zum Bahnhof und bietet einen schönen Blick auf den Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein.
Dann, nach 7 Stunden, 25 Kilometern und 41’000 Schritten, habe ich es geschafft. «Müde, aber zufrieden kehrte ich nach Hause zurück.»
Anforderungen: 25,1 km, 658 m aufwärts, 755 m abwärts.
Route: PDF von SchweizMobil
Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Seit 2017 ist er pensioniert. Nebst der Zolliker Lokalgeschichte gehört auch das Wandern zu seinen Steckenpferden.